Luxemburg und die Eisen- und Stahlindustrie

Von Mitte des 19. Jahrhunderts bis Ende des 20. Jahrhunderts war das Schicksal des Landes eng mit der Eisen- und Stahlindustrie verknüpft. Sie machte das Land und seine Einwohnern reich und prägte die luxemburgische Wirtschaft, Gesellschaft und Landschaft stark. Ihr Niedergang ab 1975 zwang das Land zur Diversifizierung, trug aber vor allem zur Gründung des "Luxemburger Sozialmodells" bei.

Die bescheidenen Anfänge

Zu Beginn war Luxemburg ein Agrarstaat mit überholten Strukturen. Zwar gab es einige kleine Industrien – Gerbereien, Textilmanufakturen, Fayence-Fabriken, Eisenhütten nach altem Muster, Papierfabriken, Brauereien –, doch handelte es sich dabei um verstreute und unbedeutende Unternehmen.

1842 trat das Großherzogtum dem Zollverein bei, der Zollunion der deutschen Staaten. Dieser Beitritt, der den Zugang zum deutschen Markt eröffnete, sollte sich als günstig für Luxemburg erweisen: Deutschland stellte dem Großherzogtum das für die Entwicklung seiner Schwerindustrie nötige Kapital sowie die erforderlichen Arbeitskräfte zur Verfügung.

Doch damit ein wirtschaftlicher Austausch möglich ist, braucht es gute Verkehrswege! Der Bau der Eisenbahnlinien – die erste Verbindung Luxemburg-Thionville wurde 1859 eingeweiht – war ein Ereignis von nationaler Bedeutung und wurde in dem Lied De Feierwon (der Feuerwagen) verewigt.

Ein Riese der Eisen- und Stahlindustrie

Durch den Beitritt zum Zollverein und den Bau des Eisenbahnnetzes wurden günstige Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung geschaffen. Dennoch konnte die industrielle Revolution in Luxemburg erst mit der Entdeckung von Eisenerzvorkommen im Süden des Landes Anfang der 1840er Jahre beginnen.

Rund um die Stadt Luxemburg, aber vor allem im Süden des Landes, wurden große Industriekomplexe errichtet, von denen heute noch einige Überreste bewundert werden können. Esch an der Alzette, Schifflingen, Düdelingen und weitere Dörfer aus der vorindustriellen Zeit erlebten eine wahre Bevölkerungsexplosion.

Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg gehörte Luxemburg zu den sechs größten Erzeugerländern. 1911 entstand durch Fusion mehrerer Unternehmen die Vereinigten Hüttenwerke Burbach, Eich und Düdelingen, kurz ARBED (Aciéries réunies de Burbach, Eich et Dudelange), die sich zum wichtigsten Akteur der Luxemburger Eisen- und Stahlindustrie entwickeln sollte.

© Claude Piscitelli

Ein Einwanderungsland

Die Industrialisierung veränderte die demografischen und sozialen Strukturen des Landes. Bauern aus dem Ösling, dem Norden des Landes, verließen ihren Besitz, um in Gruben und Hüttenwerken zu arbeiten.

Allerdings reichten die einheimischen Arbeitskräfte nicht aus. Ab 1890 stoppt die Auswanderung praktisch und Luxemburg wird zu einem Einwanderungsland. Die Einwanderer kamen in mehreren Wellen: zuerst die Deutschen, dann die Italiener und schließlich ab den 1960er Jahren die Portugiesen. 1910 machten die Einwanderer bereits 15,3% der Gesamtbevölkerung aus. Heute liegt der Ausländeranteil bei nahezu 50%.

Stahlgeschichte, erlebt von "einfachen" Menschen

Die virtuelle Ausstellung Minett Stories lädt die Besucher ein, die Geschichte der Industrialisierung der Region vom späten 19. Jahrhundert bis zur Stahlkrise der 1970er Jahre und der anschließenden schrittweisen Deindustrialisierung zu erkunden. Der Ansatz entfernt sich von den üblichen Erzählungen über große Eisenhütten und Stahlbarone und konzentriert sich auf die Lebensgeschichten der einfachen Menschen, die in der Region lebten, oft Bergarbeiter, die Minettsdäpp.

Die Ausstellung erforscht die vielfältigen - und manchmal umstrittenen - Identitäten der Region anhand von 21 Geschichten. Sie nutzt verschiedene Formen des transmedialen Erzählens, die alle online verfügbar sind: ein Hörspiel, Graphic Novels, Dokumentarfilme und Videos, interaktive Karten und historische Essays. Eine Sammlung historischer Quellen ist ebenfalls auf der Website Minett Stories verfügbar.

Die Ausstellung ist Teil des Projekts Remixing Industrial Pasts in the Digital Age des Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History an der Universität Luxemburg. Sie wurde im Rahmen von Esch2022 ins Leben gerufen und wird weit über dieses Kulturjahr hinaus online sein.

Blick auf das Fabrikgelände von Esch-Belval. Fotografie des Werksgeländes von Esch-Belval von den Weiden von Belvaux aus, in den 1980er Jahren.
© Jos Rinaldi, alle Rechte vorbehalten
Unbekannter Eingang einer Eisenerzmine mit Waggon luxemburgischer Bauart und Bergarbeiterfamilie (um 1890).
© Collection Musée National des Mines de Fer, alle Rechte vorbehalten

Der dominierende Wirtschaftssektor

Die Vorherrschaft der Eisen- und Stahlindustrie war für ein so kleines Land wie Luxemburg allerdings gefährlich. 1970 lag der Anteil dieses Sektor an der gesamten Wertschöpfung in Luxemburg bei 27,9%. Anders gesagt: mehr als ein Viertel des luxemburgischen Reichtums entstand in den Stahlwerken.

Luxemburg unternahm ab den späten 1950er Jahren beträchtliche Bemühungen zur Diversifizierung der Wirtschaft. Dank Auslandsmissionen zur Wirtschaftsförderung ließen sich weitere Industrien in Luxemburg wieder, zum Beispiel Goodyear oder DuPont de Nemours. Gleichzeitig stieg der Anteil des tertiären Sektors beträchtlich. 1958 lagt der Anteil des tertiären Sektors an der Wertschöpfung noch bei 38%, doch 1995 stieg er bis auf 77% an. Heute werden 88% des luxemburgischen Reichtums im Dienstleistungsgewerbe geschaffen, darunter fast ein Drittel im Bereich Finanzdienstleistungen.

© IL
© 2014 Le Fonds Belval

Ein einvernehmliches Sozialmodell gegen die Krise

Doch nichts hätte das Land auf die Ereignisse der Jahre 1975-1985 vorbereiten können. Die Weltwirtschaftskrise traf die luxemburgische Wirtschaft mit voller Wucht. Gleichzeitig hat es die Eisen- und Stahlindustrie mit einer weltweiten Überproduktion zu tun. Angesichts einer sinkenden Nachfrage und eines Preiseinbruchs schien die einzige Lösung zu sein, die Produktion herunterzufahren. 1985 beschäftigte die Eisen- und Stahlindustrie nur noch 13.400 Personen, die Hälfte des Personalbestands von 1974.

Um Tausende Entlassungen zu verkraften und einen sozialen Konflikt zu verhindern, schuf die luxemburgische Regierung den Dreiparteilichen Koordinierungsausschuss (Comité de coordination tripartite). Dieser Ausschuss brachte Arbeitgeber, Angestellte und Behörden an einen Tisch. 1979 erreichte er eine Einigung, dank der die Eisen- und Stahlindustrie umstrukturiert und modernisiert werden konnte.

Die Tripartite, wie dieses Modell der Absprache in Luxemburg heißt, hat sich durchgesetzt und bildet derzeit das Zentrum des "Luxemburger Sozialmodells". In diesem Modell engagieren sich die Partner, gemeinsam einvernehmliche Lösungen für sozioökonomische Probleme zu finden.

Und heute?

2002 fusionierte ARBED mit Aceralia und Usinor, um das größte Eisen- und Stahlkonglomerat der Welt, Arcelor, zu bilden. Dieser Konzern fusionierte 2006 wiederum mit dem Branchenriesen Mittal Steel, um Arcelor Mittal zu gründen. Der Konzernsitz verblieb in Luxemburg, und mehrere Produktionsstätten versorgen den Weltmarkt weiterhin mit Stahlprodukten. Von Doha bis Kopenhagen, von den sizilianischen Weinbergen bis zum One World Trade Center in New York finden Luxemburger Produkte in der ganzen Welt Verwendung.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts und nach einem langen Rückgang hat sich das Gewicht der Eisen- und Stahlindustrie in der luxemburgischen Wirtschaft wieder stabilisiert. Heute werden 2% der gesamten Wertschöpfung in der Eisen- und Stahlindustrie geschaffen.

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