Precision Health - Patienten eine Stimme geben Wie Luxemburg die Bekämpfung von Pandemien und chronischen Krankheiten gemäß einem individualisierten Ansatz unterstützt

Guy Fagherazzi hat viel Arbeit vor sich. Der 2019 als Experte für Epidemiologie und Kohortenstudien am Luxembourg Institute for Health (LIH) eingestellte Forscher findet sich 2020 mitten im Epizentrum des luxemburgischen Kampfs gegen COVID-19 wieder. Mit Unterstützung der Regierung, des LIH und der Universität leitet er die Predi-COVID-Studie, in deren Rahmen Daten von an COVID-19 erkrankten Patienten erhoben werden. Das Ziel dieser Studie besteht darin, die Reaktionszeit im Falle einer neuen Pandemie weiter zu reduzieren. Im Rahmen seiner zentralen Arbeit beschäftigt er sich allerdings mit der Präzisionsmedizin (Precision Health), d. h. der Art und Weise, wie Behandlungen auf den einzelnen Patienten und seine Bedürfnisse über das klinische Umfeld hinaus angepasst werden können.

Dr. Fagherazzi – wir haben gerade die personalisierte Medizin und Precision Health erwähnt. Was steckt hinter diesen Begriffen?

Personalisierte Medizin und Precision Health sind sehr ähnliche Begriffe. Die personalisierte Medizin legt den Schwerpunkt auf die Betreuung, Diagnose und Überwachung von Patienten, während Precision Health ein umfassenderes Konzept darstellt, das neben der personalisierten Medizin auch Aspekte der Prävention und Precision Public Health beinhaltet. Der Grundgedanke besteht darin, sich von einer standardisierten Medizin für jedermann mit denselben Ansätzen unabhängig von den Patienten hin zu wirklich individualisierten Behandlungen zu bewegen. Wir versuchen demnach, den besten Ansatz entsprechend dem Profil jedes Einzelnen zu identifizieren, um den Bedürfnissen des Patienten am nächsten zu kommen.

In Ihrer persönlichen Erklärung auf der Website des LIH äußern Sie sich dahingehend, dass Sie "den Weg für moderne und konkrete Gesundheitsforschungsstudien öffnen" möchten. Was hat dieser neue Ansatz in der medizinischen Forschung so Revolutionäres?

Das Ziel dieses Ansatzes ist die Einbeziehung neuer Technologien in die klinische Forschung und eines Tages auch in den klinischen Alltag bei der Patientenüberwachung. Stellen Sie sich beispielsweise vor, Patientengruppen oder -profile zu identifizieren, die anschließend dazu dienen können, die Betreuung von einzelnen Personen mit bestimmten chronischen Krankheiten anzupassen.

Wir versuchen zudem, Studien von morgen mit enormen Datensätzen zu entwickeln, die dank neuer Technologien, z. B. unter Verwendung der Smartphones von Patienten, erfasst werden. Diese Methoden sind Teil von Big Data und künstlicher Intelligenz und werden für konkrete klinische Bedürfnisse angewandt - so der Wunsch unserer Abteilung.

Welche Technologien entwickeln Sie in diesem Zusammenhang?

Auf Ebene der Abteilung arbeiten wir an Smartphone-Apps oder verbundenen medizinischen Geräten. Wir arbeiten ebenfalls an zwei digitalen Informationsquellen, die uns bei der Anpassung unserer Behandlungen helfen könnten.

Bei der ersten Quelle handelt es sich um eigene Beiträge von Patienten in sozialen Netzwerken. Durch die Erhebung dieser Daten - derzeit haben wir Zugang zu etwa einer Milliarde Daten aus sozialen Netzwerken - gelingt uns die Identifizierung der zentralen Anliegen von Menschen, die an einer chronischen Krankheit wie Diabetes oder Krebs leiden. In einem traditionellen klinischen Forschungskontext hätten wir keinerlei Zugang zu diesen Informationen.

Die zweite Informationsquelle entstammt unserer Forschung an stimmlichen Biomarkern. Anders gesagt arbeiten wir mit subtilen Stimmmodulationen. Bei diesen Modulationen, die mit dem menschlichen Gehör nicht unbedingt wahrzunehmen sind, handelt es sich um Signale, anhand derer der Gesundheitszustand einer Person dank künstlicher Intelligenz diagnostiziert werden kann. Bereits sehr geringfügige Änderungen in der Stimmlage können zeigen, ob eine Person krank ist oder nicht.

Können Sie uns konkrete Anwendungsbeispiele geben?

Im Bereich der Onkologie treten während der Behandlung, insbesondere bei der Chemotherapie, sehr häufig psychische Gesundheitsprobleme auf, beispielsweise Müdigkeit, Stress, Angst oder Depressionen, die wir über die Stimme nachverfolgen können, was uns letztendlich eine personalisierte Betreuung ermöglichen würde. Mit dieser Vision versuchen wir, unsere Arbeit auszubauen.

Bei Diabetikern kann man mit einem Screening-Tool Diabetes anhand der Stimme erkennen, beispielsweise mit einer Tonaufnahme. Diesen Ansatz haben wir bereits zur Früherkennung von COVID-19 getestet.

© LIH

Dr. Guy Fagherazzi ist Leiter der Precision Health Abteilung am Luxembourg Institute of Health (LIH) und Chef der Forschungseinheit "Deep Digital Phenotyping". Der studierte Mathematiker und Statistiker ist Experte für Kohortenstudien und leitete die Predi-COVID-Studie, in deren Rahmen Tausende von Patienten begleitet wurden, die während der Pandemie an dem Virus erkrankten. Er fördert die Einbeziehung digitaler Tools wie künstliche Intelligenz und Big Data im medizinischen Sektor, und zwar insbesondere auf dem Gebiet der Diabetesforschung. In diesem Zusammenhang ist er ein Verfechter der Präzisionsmedizin.

Wie rufen Sie diese Daten ab?

Wir arbeiten hauptsächlich mit öffentlichen Daten aus sozialen Netzwerken wie Twitter, und zwar auf der Grundlage einer Nutzungslizenz, die man mit Twitter abschließen kann. Dies erlaubt uns den Abruf von Daten zu Marketing-, Werbe-, aber auch zu Gesundheitsforschungszwecken. Seit einigen Jahren haben wir somit ein Datenerfassungssystem auf Twitter, das mit Schlüsselwörtern gespeist wird, die für uns in Bezug auf bestimmte Krankheiten, die wir analysieren möchten, von Interesse sind.

Auf Basis dieser Daten richten wir ein globales Online-Gesundheitsobservatorium ein, in dem wir eine aggregierte Überwachung betreiben, um Mitteilungen der Zielpopulation zu identifizieren und unsere Forschungsprioritäten anzupassen. Man versucht allerdings nicht, einzelne Personen, sondern vielmehr Signale zu identifizieren.

Inwiefern sind diese "neuen" Technologien für Ihre Arbeit als Leiter der Forschungseinheit notwendig?

Das Forschungsteam stützt sich auf die Entwicklung dieser Technologien, um einschlägige Daten abzurufen. Eines der Ziele besteht in der Entwicklung von Screening-Tools zwecks Erleichterung der Früherkennung von Krankheiten im Gegensatz zu einer invasiven Blutabnahme. Für bestimmte Anwendungsfälle reicht eine Aufnahme der Stimme von einigen Sekunden aus, um über eine erste Risikoindikation zu verfügen. Bei Personen mit einer chronischen Krankheit geht es um die Erleichterung der Überwachung der Krankheit im Alltag (Stress, Depressionen, Angst, Schmerzen, Müdigkeit), wobei die Betreuung auf der Grundlage eines objektiven stimmlichen Biomarkers personalisiert wird.

Welche Forscherprofile unterstützen Sie im Rahmen dieser Projekte?

Das Team ist äußerst multidisziplinär mit einem Schwerpunkt, der sehr auf die neuen Gesundheitstechnologien ausgerichtet ist. Wir haben Mediziner, Epidemiologen, Datenwissenschaftler, Bioinformatiker im Team und werden sogar Aspekte der Psychologie und Soziologie einbeziehen, um besser zu verstehen, wie diese Technologien in die gängige Praxis integriert werden können. Die multidisziplinäre Seite ist ein Mehrwert. Anstatt eine sehr spezifische, sehr restriktive Vision zu haben, versuchen wir, sie aus verschiedenen Blickwinkeln zu erörtern.

Finden Sie die erforderlichen Talente in Luxemburg?

Prinzipiell ja. Luxemburg hat den Vorteil, dass es dort gute Arbeitsbedingungen und vor allem ein sehr dynamisches Forschungsumfeld gibt.

Das Land ist zwar auf europäischer Ebene unter Umständen noch nicht sehr bekannt, aber die Leute sind ob der Qualität, Relevanz und Dynamik der luxemburgischen Forschungswelt häufig überrascht, wenn sie sie entdecken. So ist es zumindest mir ergangen.

Und auf persönlicher Ebene, was hat Sie an Luxemburg gereizt?

Was mich persönlich fasziniert hat, waren die Forschungsprioritäten, die mit dem, was ich entwickeln wollte, komplett im Einklang standen. Die Ausrichtung nationaler Forschungsprioritäten auf die Präzisionsmedizin, das digitale Gesundheitswesen, das sind Themenbereiche, auf die Luxemburg in hohem Maße setzt.

Deep Digital Phenotyping (DDP)

Das Deep Digital Phenotyping-Team nutzt häufig aus Smartphones stammende digitale Daten, um das Verhalten und die Gesundheit zu verstehen und zu analysieren. Die Anwendungsbereiche beinhalten die Früherkennung von Epidemien sowie die Überwachung chronischer Krankheiten und Erkrankungen der psychischen Gesundheit.

Ihre persönliche Laufbahn hat Sie von der Mathematik und Statistik zu Forschungen im medizinischen Sektor geführt. Wie ist es dazu gekommen?

Mathematik war schon immer meine Leidenschaft, sodass ich Karriere in der Welt der Zahlen, der Modellierung machen wollte. Im Rahmen meiner Spezialisierung auf Biostatistik fiel die Entscheidung, mich auf medizinische Anwendungen im Gesundheitsbereich zu fokussieren. Dann habe ich noch einen Master in Epidemiologie daran gehängt, ein Bereich, in dem man versucht, einen statistisch-mathematischen Ansatz mit einem konkreten Problem der öffentlichen Gesundheit zu kombinieren.

Ich finde es eben spannend, dass man dank verschiedener Profile Brücken zwischen verschiedenen Bereichen bauen kann. Es ist mein Wunsch, dass ich durch die Zusammenarbeit mit Medizinern mein Verständnis von medizinischen Problemstellungen mit Aspekten der Datenmodellierung und der Forschung verbinden kann.

COVID-19 war ja dann eigentlich der Idealfall, um all diese Theorien zu überprüfen?

COVID-19 war ein großer Schock für die gesamte Welt, diente für die Forschung allerdings auch als Katalysator und Beschleuniger. Am LIH haben wir uns über Research Luxembourg schnell organisiert und in erstaunlich kurzer Zeit Studien mit Mitteln entwickelt, die uns sehr kurzfristig zur Verfügung gestellt worden waren. So etwas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt. In wenigen Wochen haben wir eine große Kohortenstudie, Predi-COVID, mit der Erfassung von Daten und Stichproben auf die Beine gestellt, um die Profile von an COVID-19 erkrankten Personen besser zu verstehen.

Wir haben zudem Stimmproben von den Teilnehmern der Studie genommen, eine enorme Grundlage an sehr umfangreichen, sehr relevanten Informationen, was die Erforschung dieser Krankheit vorangetrieben hat.

Dank allem, was uns COVID-19 gelehrt hat, können wir heute alles, was wir über die Methodik gelernt haben, auf andere chronische Krankheiten wie Diabetes, Krebs und psychische Gesundheit übertragen.

Wie hat Sie das LIH während dieser Zeit unterstützt?

Ganz zu Beginn der Pandemie haben wir eine Task Force gebildet, in der sich alle Forschungsinstitute und die Universität Luxemburg abgestimmt haben, um verschiedene Forschungsprojekte zu entwickeln. Wir wurden beauftragt, diese Kohortenstudie auszuarbeiten und die Entwicklung von Patienten und Personen, die COVID-19 hatten, zu verfolgen. Ich persönlich war für die Implementierung der Predi-COVID-19-Studie zuständig, die es heute noch gibt. Wir überwachen nun über tausend Personen 2 Jahre nach ihrer SARS-CoV 2-Erkrankung.

Damals hatten wir andere Forschungsprojekte ausgesetzt und uns während einer kurzen, aber intensiven Zeit auf die Umsetzung dieser Forschungsprojekte konzentriert. Wir wurden vom Nationalen Forschungsfonds (FNR) und von der André Losch-Stiftung finanziell unterstützt, was es uns ermöglichte, die Forschung weiterzuentwickeln und Mittel zu haben, um die erhobenen Daten auszuwerten.

Inwiefern sticht Luxemburg in Bezug auf sein Forschungsumfeld hervor?

Aufgrund der Dynamik, der Forschungsprioritäten und des Willens zur Weiterentwicklung der Digitalisierung. Da sich Luxemburg im Verlauf der Geschichte schon immer positioniert hat, und zwar entweder in Nischen oder in einigen zukunftsträchtigen Bereichen, zu denen die Digitalisierung eindeutig zählt, ist dies für Forscher wie mich ideal. Wir haben die allgemeine Unterstützung, um innovative Forschung in diesen Bereichen weiterzuentwickeln.

Auf welche Errungenschaft sind Sie besonders stolz?

Auf die Predi-COVID-Studie, die das Ergebnis einer bemerkenswerten Teamarbeit ist. Alle Teams des LIH wurden mobilisiert, und wir haben Tag und Nacht gearbeitet. Sogar während des Lockdowns, als wir virtuell arbeiten mussten, gelang es uns, alles innerhalb kürzester Zeit auf die Beine zu stellen.

Ich bin persönlich zufrieden, weil es sich um die erste Kohortenstudie handelt, die unsere Philosophie in Sachen Precision Health veranschaulicht, einschließlich einer Datenerhebung, die einen Gesamtüberblick über die Teilnehmer gibt. Dank dieser Studie konnten wir unsere Vision realisieren, die wir heute erfolgreich auf andere Kontexte anwenden.

Wie lauten Ihre Pläne für Ihre weitere Karriere?

Ich befinde mich aktuell an einem Punkt, an dem ich deutlich machen muss, dass meine Ideen und meine Forschung Einfluss haben werden. Mein Ziel besteht darin, die stimmlichen Biomarker zur klinischen Anwendung zu bringen, sodass es uns gelingt, ihre Bedeutung zu beweisen und sie im Rahmen von klinischen Forschungsprojekten einzusetzen.

Wir sind auf internationaler Ebene im Hinblick auf diese Thematik anerkannt, einschließlich sich entwickelnder Kooperationen und in diesem Zusammenhang betreuter Doktoranden. In 5 Jahren bin ich wohl weiterhin dabei, diese Thematik auszubauen, die Abteilung voranzubringen und innovative Projekte weiterzuentwickeln.

Gibt es eine Seite, die Sie an Luxemburg weniger mögen?

Wie bei jedem Grenzgänger ist auch bei mir Telearbeit weiterhin kompliziert, und Staus sind ein Thema. Aber man gewöhnt sich daran. Was man aus Sicht der öffentlichen Gesundheit bedauern kann, ist die Tatsache, dass wir noch immer kein Gesetz zur öffentlichen Gesundheit in Luxemburg haben, das den Zugang zu bestehenden Daten erleichtern würde. Wir sitzen auf einem Datenreichtum, aber uns fehlt noch ein gesetzlicher Rahmen, um diesen Reichtum maximal zu nutzen. Es wird gerade über ein Gesetz diskutiert, und wir erwarten alle ungeduldig eine Aufwertung der Datennutzung für die Forschung.

Welche drei Wörter charakterisieren die Luxemburger?

Als ich in Luxemburg ankam, war ich von der Offenheit der Luxemburger beeindruckt. Wenn man von woanders hier ankommt, wird man sich bewusst, dass Luxemburg per Definition europäisch ist, beispielsweise aufgrund der Sprachen, der Kultur oder der Bildung in der Schule.

Zuvorkommend und höflich, vielleicht mehr als einige Franzosen.

Und seit den Interaktionen, die ich mit Kollegen aus anderen Instituten hatte, kann ich sagen, dass sie sehr dynamisch und zukunftsorientiert sind. In Luxemburg geht man ganz positiv an die Dinge heran: wir haben die Mittel, wir haben eine Strategie, wie lässt sich die Situation verbessern? Das ist etwas sehr Bemerkenswertes.

Vielen Dank Dr. Fagherazzi, dass Sie sich Zeit für dieses Gespräch genommen haben.

Dieses Interview wurde für die Zwecke des vorliegenden Artikels bearbeitet.