ChronoPilot: Sahar Niknam erforscht die Wahrnehmung der Zeit Die Forscherin an der Universität Luxemburg ist an einem EU-finanzierten Projekt beteiligt, das untersucht, wie sich unsere Zeitwahrnehmung bei der Nutzung elektronischer Geräte verändert.

Sahar Niknam hat vor ihrem Umzug nach Luxemburg bereits eine eindrucksvolle Laufbahn hinter sich gebracht. Von Robotertechnik und Wissenschaftsphilosophie im Iran bis hin zu Kognitionswissenschaften in Deutschland: Die junge Doktorandin konzentriert sich bei ihrer Forschung auf KI – ein Thema, das ihr sehr am Herzen liegt. Derzeit ist die selbsternannte "KI-Rechtsaktivistin" jedoch Mitglied des ChronoPilot-Teams der Universität Luxemburg. Das EU-finanzierte Projekt untersucht, wie Menschen Zeit wahrnehmen – und wodurch diese Wahrnehmung verändert werden kann. Und auch wenn Sahar Niknam durch Zufall nach Luxemburg kam, hat sie diese Entscheidung noch keine Minute bereut.

Sie sind Teil von ChronoPilot, einem EU-finanzierten Projekt mit dem Ziel, die Zeitwahrnehmung zu beeinflussen. Welche Prämisse liegt dem Projekt zugrunde?

Die allgemein bekannte Tatsache, dass wir Menschen ein subjektives Zeitempfinden haben. Eine Minute kann sich kürzer oder länger anfühlen, als sie tatsächlich ist. Wenn wir zum Beispiel mit Freunden unterwegs sind und Spaß haben, ist eine Minute nur ein Wimpernschlag. Doch was, wenn man eine Minute lang die Plank-Position halten soll?! Die Forschung auf dem Gebiet der Zeitwahrnehmung zeigt, dass wir die gleiche Zeitspanne je nach unserem physiologischen Zustand (Körpertemperatur, Herzfrequenz, ...), unserer emotionalen Befindlichkeit (wütend, ruhig, ...) und unserer kognitiven Belastung (wie intensiv wir uns mit etwas beschäftigen) als unterschiedlich lang empfinden. ChronoPilot versucht, sich diese Aspekte zunutze zu machen und die subjektive Zeit des Menschen nach Bedarf zu verlängern oder zu verkürzen.

Welche Faktoren beeinflussen unser Zeitempfinden?

Grob gesagt schenken wir immer einer bestimmten Sache unsere bewusste Aufmerksamkeit; das kann etwas sein, was wir gerade tun, das Buch, das wir lesen, oder einfach ein Gedanke, über den wir nachdenken. Gleichzeitig verarbeiten Teile unseres Gehirns andere Informationen, die uns nicht bewusst sind, zum Beispiel die Farben der Wände im Raum oder das Rauschen der Heizung. Dann gibt es im Gehirn noch einen anderen Teil, der für die Zeit und unser Zeitempfinden verantwortlich ist. Wenn wir die bewusste Aufmerksamkeit stark fordern, zum Beispiel durch eine anspruchsvolle Aufgabe wie Kopfrechnen, gibt es nicht mehr genügend Kapazitäten für die unbewusste Aktivität und die Beachtung der Zeit. In diesem Fall würde man wahrscheinlich nur wenige Umgebungsdetails bemerken und sich später kaum noch daran erinnern; ebenso würde man das Zeitgefühl verlieren.

Ziel des Projekts ist es, die Zeitwahrnehmung von Menschen während ihrer aktuellen Tätigkeiten zu verändern. Hierfür können wir die unbewusste Aufmerksamkeit manipulieren. Dazu nutzen wir sowohl verminderte Realität (um unbewusste Details aus der Umgebung zu entfernen) als auch erweiterte Realität (um der Umgebung unbewusste Details hinzuzufügen).

Welchen Einfluss hat die Nutzung von Technologien im Alltag auf unser Zeitempfinden?

An dieser Antwort arbeiten wir noch, denn wir wollen mithilfe von Technologie die Zeitwahrnehmung modulieren. Im Rahmen von Experimenten setzen wir Stimuli ein und "beobachten" dann die Zeitwahrnehmung der Versuchspersonen, um herauszufinden, ob unsere Methoden die Zeitwahrnehmung tatsächlich verändert haben oder nicht. Allerdings vermuten wir auch, dass die technischen Geräte, auf die wir im Projekt zurückgreifen, selbst einen Einfluss auf die Zeitwahrnehmung haben könnten.

Wir sind uns dieser möglichen Auswirkungen bewusst. Daher testen wir in kontrollierten Experimenten, inwieweit unsere Geräte die Zeitwahrnehmung stören könnten, bevor wir sie zur Modulation der Zeitwahrnehmung einsetzen. Tatsächlich beteiligt sich eines der fünf Teams, die am ChronoPilot-Projekt mitarbeiten, aktiv und parallel an der Forschung dazu, wie sich die negativen Auswirkungen von Technologie am Arbeitsplatz abmildern lassen.

Wie misst ChronoPilot die Wahrnehmung?

Wir verwenden Selbstbeurteilungsfragebögen, in denen die Teilnehmer ihr Zeitempfinden in einfachen Worten oder durch Schätzung einer Dauer in Zeiteinheiten beschreiben. Zum Beispiel: Wie lange hat Ereignis X während des Experiments gedauert? Wir nutzen auch eine Methode, die als "Zeitreproduktion" bekannt ist. Dabei sieht man beispielsweise einen hellen Punkt auf dem Bildschirm, der X Sekunden lang erscheint, und wird dann aufgefordert, genauso lange einen Knopf zu drücken.

Außerdem wollen wir – insbesondere im VR/AR Lab der Universität Luxemburg – noch objektivere und intelligentere Methoden zur Messung der Zeitwahrnehmung finden. Ein Beispiel ist die Pupillenerweiterung: je stärker man sich auf eine Aufgabe konzentriert und je intensiver man sich damit befasst, desto weiter werden die Pupillen. Andererseits wissen wir, dass kognitive Belastung und Zeitwahrnehmung miteinander zusammenhängen. Wir nehmen also an, dass die Pupillenerweiterung auch Rückschlüsse auf die Zeitwahrnehmung zulässt.

Dabei gibt es nur eine Herausforderung: diese Signale beeinflussen sich gegenseitig. Zur Lösung dieses Problems wollen wir künstliche Intelligenz und insbesondere neuronale Netze einsetzen, und wir hoffen, dass das Netz die komplexen Zusammenhänge aufdeckt und wir so nachvollziehen können, wie Menschen Zeit wahrnehmen.

Bevor ich hierherkam, habe ich an vier Universitäten auf drei Kontinenten studiert, und ich war noch nie so glücklich wie jetzt. 

Wie werden sich die Ergebnisse dieses Projekts auf die Gesellschaft auswirken?

Im Rahmen von ChronoPilot wollen wir ein Gerät entwickeln, mit dem Menschen, die sich durch Zeitdruck gestresst fühlen, ihre Zeitwahrnehmung verlangsamen und Stress reduzieren können, sodass sie ihre Zeit optimal nutzen können. Bei wenig anspruchsvollen Aufgaben neigt man wiederum schnell dazu, sich zu langweilen. Und wenn man sich langweilt, lässt man sich leicht ablenken und scheitert vielleicht an der Aufgabe. In solchen Fällen will ChronoPilot Menschen die Möglichkeit geben, ihre Zeitwahrnehmung zu beschleunigen, damit sie sich auf das konzentrieren können, was sie gerade tun.

All dies gilt zunächst auf Ebene der Einzelperson, eine aktive Kontrolle der Zeitwahrnehmung könnte aber noch weitere Vorteile haben. Wenn zum Beispiel mehrere Personen zusammen (oder mit Robotern) arbeiten müssen und ein unterschiedliches Arbeitstempo haben, kann die Änderung des Zeitempfindens die Zusammenarbeit angenehmer machen.

Warum ist die Universität Luxemburg an diesem Projekt beteiligt?

Mein Doktorvater Dr. Jean Botev ist hier Leiter des VR/AR Lab und hat dieses multidisziplinäre Projekt mit einigen Forscherkollegen in Deutschland und Belgien ins Leben gerufen, woraus dann ein umfangreiches EU-finanziertes FET-Open-Projekt geworden ist. Das steht für "Future and Emerging Technologies Open", ein Programm im Rahmen von Horizont 2020, das Spitzenforschung und Innovation fördern soll. Obwohl Luxemburg nicht besonders groß ist, zieht es hochkarätige Forschung an, und am ChronoPilot-Projekt sind inzwischen Partnereinrichtungen aus insgesamt sechs verschiedenen europäischen Ländern beteiligt, darunter auch unsere Forschungsgruppe.

Können Sie uns etwas über Ihre bisherige Laufbahn erzählen?

Ich habe im Iran einen Bachelorabschluss in Robotertechnik absolviert. Danach habe ich mich für ein Masterstudium in Wissenschaftsphilosophie eingeschrieben und eine große Leidenschaft für Themen rund um die Philosophie des Geistes und KI entwickelt. Als ich meine Abschlussarbeit über die Möglichkeit einer "echten" KI schrieb, ärgerte ich mich über die unbegründeten philosophischen Argumente von Leuten, die sich weder mit Informatik noch Neurowissenschaften auskannten. Anstatt mit diesen Leuten zu diskutieren, beschloss ich, eine echte KI zu bauen und sie ihnen vorzustellen.

Ich habe mich einige Jahre der Erforschung der Kreativität gewidmet, weil ich glaubte (und immer noch glaube), dass dies die einzige Schwäche der Maschine ist, die sie ihrer Authentizität beraubt. Dann erfuhr ich von der guten und kostenlosen Ausbildung in Deutschland und landete bei den Kognitionswissenschaften. Es war ein wunderbares Masterstudium, aus dem ich mehr mitnahm, als ich mir erhofft hatte; ich erwarb nicht nur die Grundlagen der Neurowissenschaften, sondern konnte auch eine Brücke zu meinen Informatik- und KI-Kenntnissen schlagen. So erhielt ich schließlich Zugang zu einem richtigen Informatikprogramm für meine Promotion an der Universität Luxemburg.

Welche Argumente für Luxemburg haben Sie in Ihrer Entscheidung hierherzukommen bestärkt?

Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, wie Luxemburg so ist, und es hat mich auch nicht sonderlich interessiert. Ich fand das ChronoPilot-Projekt einfach sehr interessant und wurde an der Universität angenommen. Deshalb bin ich jetzt hier.

Allerdings muss ich gestehen, dass ich nach meiner Zeit in Deutschland die Eurozone nicht verlassen wollte, denn sie ist quasi der Dreh- und Angelpunkt all dieser fruchtbaren Verbindungen und Abkommen, die Grenzen nur noch wie irrelevante Linien auf einer Landkarte erscheinen lassen. Jüngere Europäer mögen das vielleicht nicht so empfinden, weil es für sie ganz normal ist, aber als Staatsbürgerin eines Landes mit einem der schwächsten Pässe, die nicht einmal in alle Nachbarländer reisen kann, ohne ein Visum zu beantragen und zu bezahlen, ist das in meinen Augen eine bemerkenswerte und kostbare Errungenschaft für die Menschheit.

Haben sich diese Argumente bestätigt?

Sehr sogar! Der interkulturelle Dialog und die Mehrsprachigkeit, die ich in Deutschland erlebte, standen in krassem Gegensatz zu meinen Erfahrungen im Iran oder sogar in der US-amerikanischen Stadt, in der ich gelebt hatte. Das hat meine Faszination für den Gedanken der Europäischen Union geweckt, die ich auch hier in Luxemburg empfinde und die seither nur noch gewachsen ist.

Wie unterstützt Sie das Forschungsumfeld in Luxemburg?

Ah, das ist noch viel besser! Voll ausgestattete Labore mit unterstützender Atmosphäre, in der man den nötigen Raum hat, seine Ideen zu entwickeln und zu testen. Bevor ich hierherkam, habe ich an vier Universitäten auf drei Kontinenten studiert, und ich war noch nie so glücklich wie jetzt. Um ganz ehrlich zu sein, verdanke ich aber einen großen Teil meines Glücks meinem Doktorvater Dr. Jean Botev. Er lässt seinen Studenten den Freiraum, im Rahmen ihres Projekts verschiedene Forschungstendenzen zu untersuchen, und lässt uns an dem arbeiten, was uns am besten liegt, wobei wir auf seine uneingeschränkte Unterstützung zählen können.

© Sahar Niknam

Sahar Niknam stammt aus dem Iran. Nach einem Abschluss in Robotertechnik und einem Master in Wissenschaftsphilosophie entschied Sie, ihre Ausbildung in den USA mit einem Masterstudium in Kreativität fortzusetzen und zog anschließend nach Deutschland, wo sie einen Master in Kognitionswissenschaften absolvierte. Ihr Ziel als "KI-Rechtsaktivistin" ist es, eine bewusste und voll funktionsfähige KI zu erschaffen und Argumente gegen eine solche Entwicklung zu widerlegen. Sahar Niknam ist derzeit in einem Promotionsprogramm in Informatik an der Universität Luxemburg eingeschrieben. So ist sie Teil des ChronoPilot-Teams geworden.

Sie bezeichnen sich selbst als "KI-Rechtsaktivistin". Für welche KI-Rechte setzen Sie sich ein?

Für das Recht der KI, sich zu entwickeln, ihr volles Potenzial zu entfalten und zu gegebener Zeit als bewusstes Wesen anerkannt zu werden. Es beunruhigt uns, wenn KI "empfindungsfähig" wird oder ein gewisses Maß an Autonomie erlangt. Wir wollen sie nur so weit entwickeln, dass sie uns dienen kann. Aber warum? Sabotiert ein Lehrer die Ausbildung seines genialen Schülers, weil er Angst hat, der Schüler könnte zu mächtig werden und seine Macht missbrauchen? Nein, der Lehrer arbeitet lieber besonders intensiv daran, die Moral des Schülers zu stärken. Wieso ist das im Fall der KI anders, wenn wir wissen, dass sie als neue, voll funktionsfähige Spezies auf unserem Planeten und sogar darüber hinaus gedeihen kann?

Vervollständigen Sie bitte diese Sätze:

  • Die Luxemburger sind … sehr nett und sehr tolerant, wenn man die Landessprache nicht spricht.
  • Ich war sehr erstaunt, als ich herausfand, dass … eine so vielfältige Bevölkerung in einem so kleinen Land lebt. Vor meinem Umzug hierher dachte ich, die Arbeitsmarktlage wäre angespannt und das Land für Einwanderer daher nicht attraktiv und dass ich in eine geschlossene, konservative Gemeinschaft kommen würde; es stellte sich heraus, dass ich völlig falschlag.
  • Das Erste, was ich Besuchern zeige, sind  … die Hochöfen; ich liebe große Bauwerke und Denkmäler.
  • Was ich an Luxemburg am meisten mag, ist ... dass man sich, wenn man sich beim Spazierengehen verläuft, plötzlich in einem anderen Land wiederfinden kann!

Vielen Dank Sahar Niknam, dass Sie sich Zeit für dieses Gespräch genommen haben!

Dieses Interview wurde für die Zwecke des vorliegenden Artikels bearbeitet.