Bildung im 21. Jahrhundert (II) Gemeinsam in einem sozialen, inklusiven und digitalen Bildungssystem aufwachsen

Das Ziel der nationalen Forschungs- und Innovationsstrategie besteht darin, aus Luxemburg eine nachhaltige, vielfältige und digitale Wissensgesellschaft zu machen. Die Bildung ist diesbezüglich ein Schlüsselelement. In einem kosmopolitischen Land ist es daher nur eine logische Folge, dass das Bildungssystem den Schülern ermöglicht, in einem offenen, vielfältigen und mehrsprachigen Umfeld aufzuwachsen und zu lernen. Eine Herausforderung, der sich die Forscherin Tahereh Pazouki und die Lehrerin Sarah Scholtes zu stellen bereit sind! In einem ersten Artikel berichten wir gemeinsam mit dessen Gründerin Tahereh Pazouki über das Magrid-Programm. In einem zweiten Artikel diskutieren wir mit Sarah Scholtes über das im September 2022 gestartete Pilotprojekt der Alphabetisierung auf Französisch.

Die Alphabetisierung auf Französisch: gemeinsam aufwachsen

Im klassischen Grundschulunterricht im Großherzogtum nutzt man Luxemburgisch, Deutsch und Französisch. Dieses mehrsprachige System ist sowohl ein Vorteil als auch eine Herausforderung. Um allen Schülern verschiedenster sprachlicher Herkunft mehr Chancengleichheit zu bieten, hat das Ministerium für Bildung, Kinder und Jugend im September 2022 landesweit ein Pilotprojekt zur Alphabetisierung auf Französisch in vier Grundschulen gestartet. Das Programm stützt sich insbesondere auf die Erfahrung, die in öffentlichen internationalen Schulen, die dem Lehrplan der europäischen Schulen folgen, gesammelt wurde. Sarah Scholtes, Lehrerin im Zyklus 2.1 an der Schule in Schifflingen, wendet dieses Projekt unmittelbar vor Ort an.

Stellen Sie sich bitte vor!

Ich heiße Sarah Scholtes. Ich bin seit 2007 Lehrerin. Im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit habe ich bisher überwiegend im Zyklus 2 unterrichtet. Dieses Jahr ist eine Premiere für mich, da ich Klassenlehrerin einer Klasse des Zyklus 2.1 bin, in der der Schriftspracherwerb auf Französisch erfolgt.

Luxemburg ist eine multikulturelle Gesellschaft, und tagtäglich werden zahlreiche Sprachen gesprochen. Wie wichtig ist die Mehrsprachigkeit in der Bildung?

In Luxemburg spielt die Mehrsprachigkeit eine bedeutende Rolle, und das Schulsystem muss dieser sprachlichen Vielfalt Rechnung tragen. Im Zyklus 1 liegt der Schwerpunkt zunächst auf dem Luxemburgischen, bevor sich in den nachfolgenden Zyklen dann auf Deutsch und Französisch konzentriert wird. Bisher haben alle Schüler auf Deutsch Lesen und Schreiben gelernt, und Deutsch ist auch als Kommunikationssprache in den meisten Unterrichtsfächern genutzt worden. Das ändert sich nun für die Schüler einer Pilotklasse. Das Projekt der Alphabetisierung auf Französisch legt den Schwerpunkt vor allem auf den Schriftspracherwerb in einer Sprache, die der Muttersprache bestimmter Schüler näher ist als die deutsche Sprache. Kinder lernen in einer Sprache, deren Struktur sie bereits beherrschen, oder deren Struktur einer Sprache, die sie bereits kennen, näher ist, leichter Lesen und Schreiben. Früher betrachteten wir Luxemburgisch als Brücke zur deutschen Sprache. Heute ist es anders. Die Alphabetisierung auf Französisch ist wichtig, um das luxemburgische Bildungssystem für zahlreiche Kinder mit Migrationshintergrund und einer romanischen Muttersprache in Luxemburg fairer zu gestalten. Zudem entscheiden sich Eltern unabhängig von ihrem Herkunftsland häufig für Französisch als Integrationssprache. Die Verwendung der französischen Sprache stärkt das Band zwischen Schule und Elternhaus und bezieht die Eltern besser in die schulischen Aktivitäten der Kinder ein. Allerdings möchte ich damit keinesfalls sagen, dass das Deutsche zu vernachlässigen ist. Es geht vor allem darum, einen guten Ausgangspunkt für den Spracherwerb zu gewährleisten!

Sarah Scholtes

Seit Jahren bringen Sie Kindern Lesen und Schreiben auf Deutsch bei. Dieses Jahr ist es anders. Die Alphabetisierung erfolgt auf Französisch! Wie ist Ihr erster Eindruck nach einigen Schulwochen?

Meine ersten Eindrücke sind äußerst positiv. Anders als die deutschsprachigen Programme, mit denen ich in den letzten Jahren gearbeitet habe, basiert der französischsprachige Ansatz eher auf Ritualen. Das Vokabular entwickelt sich auf der Grundlage von Liedern, Gedichten und Geschichten, die sich wiederholen und die die Kindern nach nur wenigen Tagen auswendig können. Allgemein habe ich den Eindruck, nun viel mehr Französisch zu sprechen als zuvor Deutsch. Ich muss den Kindern weniger übersetzen. Die Tatsache, im Alltag und bei außerschulischen Aktivitäten Französisch zu sprechen, und das Trampoline-Programm, eine analytische Lernmethode, machen die Anfänge der Alphabetisierung umso einfacher. Zu Beginn des Schuljahres haben wir jeden Tag systematisch phonologische Sensibilisierungsübungen praktiziert. Derzeit arbeiten wir an der Phonem-Graphem-Korrespondenz und an der Verschmelzung von mehreren Graphemen. Mittels literarischer Texte wird die Lesekompetenz allmählich aufgebaut.

Und was sagen die Kinder?

Die Kinder lieben die verschiedenen Rituale. Wenn ich eines vergesse, erinnern sie mich sofort daran.

Sprechen Sie in allen Fächern Französisch? Oder verwenden Sie noch andere Sprachen?

Für Schüler, die auf Französisch Lesen und Schreiben lernen, haben sich gegenüber den Schülern, bei denen das auf Deutsch erfolgt, die Rollen des Französischen und Deutschen umgekehrt: Französisch ist die erste geschriebene und gesprochene Sprache, die "Sprache 1", und Deutsch, die "Sprache 2", wird mündlich erlernt. Wir sprechen Französisch im Französischunterricht (9 Stunden) und in Mathematik (6 Stunden). Deutsch wird eine Stunde pro Woche unterrichtet. In allen anderen Fächern erfolgt der Unterricht auf Luxemburgisch. Es war uns wichtig, dass Luxemburgisch die gemeinsame Kommunikationssprache und die Integrationssprache für alle bleibt. Da wir eine gemischte Gruppe von Kindern aus zwei verschiedenen Klassen des Zyklus 2.1 haben, führen die Schüler in den Nebenfächern ihre Arbeitshefte in der Sprache, in der ihnen Lesen und Schreiben beigebracht wird. Dieser Ansatz spiegelt die Offenheit gegenüber Sprachen wider, wie sie im Lehrplan vorgesehen ist.

Wie werden Kinder spielerisch und ansprechend an eine Sprache herangeführt?

Das Erlernen einer Sprache macht Spaß, wenn der Unterricht abwechslungsreich ist und die Kinder aktiv einbezogen werden. Aus diesem Grund sind die Phasen der Erkennung von Lauten mit allen Sinnen länger als diejenigen, in denen wir in die Hefte schreiben. Die Schüler kommen in den Zyklus 2.1, um Lesen und Schreiben zu lernen und ihre Motivation beizubehalten; daher ist es unheimlich wichtig, dass sie schnell Erfolge sehen. Sie müssen einen Sinn in ihren Anstrengungen erkennen. In diesem Zusammenhang sind Bücher ebenso hilfreich wie digitale Medien. Die Alphabetisierung auf Französisch ändert nichts an der späteren Orientierung in den Sekundarunterricht.

Wir danken Sarah Scholtes für dieses Interview und möchten unsere Leser darauf hinweisen, dass einige Abschnitte des Interviews aus layouttechnischen Gründen gekürzt und angepasst wurden.

Zum Zeitpunkt des Wechsels zur weiterführenden Schule müssen die Schüler über die notwendigen Kompetenzen in beiden Sprachen (Französisch und Deutsch) verfügen, wie sie im Lehrplan vorgesehen sind, um dann mit dem (klassischen, allgemeinen oder internationalen) Sekundarunterricht anfangen zu können. Die Alphabetisierung auf Französisch ist somit ein zusätzliches Instrument, um sich den Bedürfnissen der Schüler besser anzupassen. Die Wahl, in welcher Sprache ein Kind Lesen und Schreiben lernen soll, obliegt den Eltern.