Esch2022 – Migrationen und Diversität, die Essenz Luxemburgs Die Migrationen und die Diversität der Bevölkerung, Schlüssel zur luxemburgischen Seele und zur Entwicklung des Landes
Die Geschichte Luxemburgs ist eng mit Migration verbunden: Auswanderung, Einwanderung und inländische Migrationen sind für die Konstellation der Bevölkerung des Landes entscheidend. Das Land der Roten Erde ist insbesondere ab dem Ende des 19. Jahrhunderts von diesen Bewegungen betroffen. In Düdelingen ist das Dokumentationszentrum für menschliche Migrationen heutzutage die Referenz, um etwas über die Diversität der luxemburgischen Gesellschaft zu erfahren. Im Rahmen von Esch2022 stellt das Projekt Moving Lusitalia das Stadtviertel Klein-Italien und die Geschichten seiner Einwohner in den Mittelpunkt.
Vom Auswanderungsland zum Aufnahmeland
Luxemburg, lange Zeit Auswanderungsland
Vor dem Aufschwung der Eisenhüttenindustrie war Luxemburg ein armes, ländlich geprägtes Land, dessen Landwirtschaft die wachsende Bevölkerung nicht ernähren konnte. Auf der Suche nach einem besseren Leben verließen zahlreiche Einwohner deshalb im 18. Jahrhundert das Land und brachen zu den Ebenen des Donaubeckens auf. Der Exodus intensivierte sich Anfang des 19. Jahrhunderts: die Luxemburger wanderten nach Brasilien, Argentinien und vor allem in die Vereinigten Staaten aus, und es entstanden zahlreiche luxemburgische Kolonien im Ausland. Wussten Sie beispielsweise, dass 1908 insgesamt 16.000 Luxemburger in Chicago lebten? Fast 200 Jahre nach der Ankunft der ersten Auswanderer sprechen einige Familien dort heute weiterhin noch Luxemburgisch!
Der Aufschwung der Eisenhüttenindustrie, eine soziale Revolution
Die Industrialisierung Luxemburgs, vor allem der mit der Entdeckung von Eisenerzvorkommen im Süden des Landes verbundene Ausbau der Eisenhüttenindustrie führte zu einer erheblichen Veränderung der demografischen und sozialen Strukturen des Landes. Ab 1870 verließen die Bauern aus dem Norden des Landes ihren Besitz, um in den im Süden errichteten Berg- und Hüttenwerken zu arbeiten. Der Aufschwung war ab 1890 derart groß, dass die Auswanderung praktisch aufhörte und Luxemburg zu einem Einwanderungsland wurde.
Die inländischen Nord-Süd-Migrationen reichten jedoch nicht aus, um den Bedarf an Arbeitskräften zu decken, und ausländische Arbeiter kamen in mehreren Etappen an: zuerst die Deutschen, dann die Italiener und schließlich ab den 1960er Jahren die Portugiesen.
Die Ankunft der Arbeiter beeinflusste die Städteplanung. In Düdelingen ist Klein-Italien ein Beispiel für eine Arbeiterkolonie, die zur Beherbergung dieser riesigen Menge an neuen Arbeitnehmern errichtet wurde. Dieses Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Viertel, das damals zwischen dem Hüttenwerk und dem Bergwerk angesiedelt war, stellt ein wesentliches Zeugnis für die Geschichte der Migrationen im Großherzogtum dar.
Dokumentationszentrum für menschliche Migrationen
Das Dokumentationszentrum für menschliche Migrationen (CDMH) befindet sich im ehemaligen Bahnhof des Stadtviertels Klein-Italien. Der Bahnhof und die Eisenbahnlinie, die 1897 errichtet wurden, dienten der Versorgung des neuen Hüttenwerks mit Kohle und zum Eisentransport. Zahlreiche Einwanderer betraten dort luxemburgischen Boden, wo sich heute das Zentrum mit der Studie der Migrationen in Luxemburg und der Großregion beschäftigt.
Das CDMH besitzt mit den Migrationen verbundene Archive, verwaltet eine Fachbibliothek, initiiert und unterstützt Forschungsarbeiten und beteiligt sich an der Verbreitung akademischen Wissens. Die Idee eines "Museums ohne Mauern" hat sich in der Tat schnell als Museumsansatz etabliert: es geht nicht ausschließlich um das Sammeln und Aufbewahren, sondern vielmehr darum, aus dem Standort in einem symbolträchtigen Gebäude inmitten eines eng mit den Migrationen verwobenen Stadtviertels Nutzen zu ziehen.
Dementsprechend ragt das Museum nach Klein-Italien, "ein typisches Stadtviertel aus den heroischen Zeiten der Industrialisierung", hinein, so das CDMH. Das sich zwischen dem Hüttenwerk und den am Hang eines Hügels gelegenen Gruben einfügende Stadtviertel ist ein einzigartiges Zeugnis für den Lebensraum der Arbeiterbevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Klein-Italien, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Kleine Einführung in die Migrationen in Klein-Italien
Die Geschichte von Klein-Italien nachzuvollziehen, heißt, die wirtschaftliche und soziale Geschichte des Großherzogtums zu durchstreifen.
Anfang des 20. Jahrhunderts wohnten in dem Stadtviertel vorwiegend italienische Einwanderer, aber im Laufe der Jahre verließen die ersten Einwohner den Ort: die für die Beherbergung unverheirateter Arbeiter geschaffenen Strukturen waren für Familien ungeeignet. Die Krise der Eisenhüttenindustrie in den 1970er Jahren hatte erhebliche nachteilige Auswirkungen auf das Stadtviertel, und zahlreiche italienische Einwanderer kehrten in ihr Heimatland zurück. Insbesondere mit der Ankunft von Spaniern, Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien, Portugiesen und Kapverdiern zeichnete sich nun nach und nach eine andere Geschichte des Stadtviertels ab. Die portugiesische Gemeinschaft entwickelte sich zunehmend zur zahlreichsten Gemeinschaft des Stadtviertels.
Im 20. Jahrhundert verschlechterten sich die Wohnverhältnisse im Stadtviertel jahrzehntelang, aber merkwürdigerweise hinderte dies die Einwanderer nicht daran, weiterhin dort zu leben. Während die Italiener das Stadtviertel aufgrund seiner Nähe zu ihrer Arbeitsstätte gewählt hatten, ließen sich die Neuankömmlinge mit niedrigen Einkünften wegen der geringen Mieten dort nieder. Erst nach der Stilllegung des Eisenhüttenstandorts wurde eine Reihe von Sanierungen in Angriff genommen: die Fassaden wurden mit leuchtenden Farben gestrichen, und die Häuser boten einen zeitgemäßeren Komfort; dies war früher undenkbar, da der Staub und Rauch des Hüttenwerks die Häuser schwärzten. Auch wenn das Stadtviertel weiterhin beliebt ist, lässt die Explosion der Preise auf dem luxemburgischen Immobilienmarkt heutzutage die ersten Anzeichen einer Gentrifizierung erkennen ...
Moving Lusitalia, ein hundertjähriges Stadtviertel erfindet sich neu
Klein-Italien war und ist weiterhin ein Spiegelbild des demografischen Wandels Luxemburgs aufgrund der Migrationen. Das Stadtviertel steht ebenfalls beispielhaft für die fantastische Fähigkeit, sich unter Einbeziehung der Öffentlichkeit mit Inklusion und Diversität als globaler Prämisse als Gemeinschaft neu zu erfinden.
Dies zeigt sich ganz genau im Projekt Moving Lusitalia, das vom CDMH im Rahmen von Esch2022 errichtet wurde. Es handelt sich um eine Ausstellung, die sich ausgehend von Erlebnissen der Menschen von dort und über die Zeiten hinweg mit dem Stadtviertel gemäß dem Konzept der Mikrogeschichte beschäftigt. Zu diesem Zweck startete das CDMH 2021 einen Aufruf zur Teilnahme, um Lebensgeschichten, Erinnerungen und Gegenstände aller Bürger, die am Leben des Stadtviertels teilgenommen haben bzw. noch teilnehmen, auszumachen, aufzuzeichnen und zu übermitteln. Das CDMH organisierte 2021 ebenfalls mehrere Treffen mit Einwohnern, um die sogenannte italienische (1880-1970) und portugiesische Periode (Ende der 1960er Jahre bis Anfang der 2000er Jahre) zu analysieren, und veranstaltete eine Gesprächsrunde zur Erörterung der Zukunft des Stadtviertels.
Das Team von Moving Lusitalia konzipierte im Stadtviertel eine interaktive Innenausstellung und einen Weg im Außenbereich. Die Vernissage der Ausstellung findet am 25. April 2022 statt. Sie beginnt um 18 Uhr im CDMH mit einem Rundgang durch die Ausstellung. Anschließend folgt ein Konzert der italienischen Künstlerin Maria Mazzotta im Boulodrome von Dudelange. Die Ausstellung im CDMH kann bis Mitte Dezember 2022 besucht werden.
3 Fragen an Heidi Rodrigues Martins, Soziologin des CDMH
Das Projekt Moving Lusitalia erzählt vom Stadtviertel auf der Grundlage von eigenen und erlebten Erfahrungen seiner Einwohner über Jahrzehnte hinweg. Warum wurde das Konzept der Mikrogeschichte gewählt, um die Geschichte des Stadtviertels zu schreiben?
Moving Lusitalia wartet mit einer Geschichte der Alltagsrhythmen im italienischen Stadtviertel von Düdelingen im Verlauf der Zeit auf. Anders, als man denken könnte, besteht das Konzept der Mikrogeschichte nicht in der Erzählung einer kleinen Geschichte. Man geht im Gegenteil vom Lokalen - der Geschichte eines Stadtviertels - aus, um einen globalen Kontext, d. h. Luxemburg oder sogar Europa, zu veranschaulichen. Die globale Mikrogeschichte schafft einen Dialog zwischen einem mikroanalytischen Ansatz und einer breit angesiedelten Geschichte. Das CDMH verfolgt diesen Ansatz, der sich mit seiner Philosophie und seinen Zielen deckt. Seit seiner Gründung vor nunmehr über 25 Jahren fördert der Verein eigentlich eine polyphone gemeinsame Erinnerung, bei der viele verschiedene Stimmen zu Wort kommen. Dies erklärt die sehr engen Beziehungen, die sowohl auf lokaler als auch auf (trans)nationaler Ebene geknüpft und unterhalten werden.
Was werden wir in der Ausstellung Moving Lusitalia wiederfinden? Können Sie uns ein beispielloses kleines Juwel unter den Zeugnissen der Einwohner des Stadtviertels verraten?
Die mit dem Studio Tokonoma aus Mailand konzipierte Ausstellung beruht auf Lebensberichten der Menschen, die im italienischen Stadtviertel gelebt haben bzw. dort weiterhin leben, sowie auf Archivdokumenten. Das Projekt ist im Innenbereich des Bahnhofs Gare-Usines angelegt, erstreckt sich aber auch nach draußen ins italienische Stadtviertel.
Im Innenbereich befindet sich eine interaktive audiovisuelle Ausstellung, die aus "vielsagenden Objekten" im Zusammenhang mit dem Alltagsleben im italienischen Stadtviertel besteht. Draußen wird die Öffentlichkeit mittels einer digitalen App auf Zeitreise geschickt, indem das Stadtviertel zu Fuß erkundet und in die Geschichten der Häuser eingetaucht wird.
Die Geschichte der "vererbten Möbelstücke" stellt einen unerwarteten Schatz dar, der durch Erfahrungsberichte offenbart wird. Beim Eintauchen in die Geschichte dieser Möbel, die Generationen von Ein- und Auswanderern verbinden, hinterfragen wir die gängigen Begriffe von Zeit, Raum und Grenze. Ein echter Remix!
Die Zukunft des Stadtviertels: lässt sich anhand der in der Ausstellung aufgegriffenen Vergangenheit und Gegenwart eine Prognose für die Zukunft des Stadtviertels stellen? Werden neue Migrationsbewegungen das Stadtviertel neu erfinden? Werden wir angesichts der Lage auf dem Immobilienmarkt in Luxemburg einer Gentrifizierung von Klein-Italien beiwohnen?
Das Projekt Moving Lusitalia erinnert daran, dass der Ort ein soziales Produkt ist, das von Menschen geschaffen wird, die dort wohnen oder durchreisen, das Viertel erleben oder es sich zu eigen machen. Es kann nicht ohne seine zeitliche Dimension und seine Alltagsrhythmen verstanden werden. Die Anwesenheit "zusammengewachsener Identitäten" macht seit jeher die Besonderheit und den Reichtum des italienischen Stadtviertels aus. Es handelt sich um einen Ort, der sich unaufhörlich neu erfindet. Es trifft zu, dass sich neue Städtebauprojekte ankündigen, und wie in der Vergangenheit werden Einwohner das Stadtviertel verlassen, während andere dort ankommen werden.
Die Zukunft vorauszusagen, würde uns vom wissenschaftlichen Ansatz abbringen. Wir werden unsere Umfragen möglichst nah an der Bevölkerung fortführen, um die gemeinsame historische Erzählung um so viele Stimmen wie möglich zu bereichern.
Wir bedanken uns bei Heidi Rodrigues Martins, für die konzeptionelle Koordination des Projekts Moving Lusitalia zuständige Soziologin des CDMH, für die Beantwortung unserer Fragen.
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